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Der „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer” –

politischer Wissenschaftler, Sozialist und Demokrat.

 

 

Professor Dr. Frank Deppe über den einflussreichen Außenseiter

 

Mit der Berufung von Wolfgang Abendroth auf einen Lehrstuhl für „wissenschaftliche Politik“ im Jahre 1951 wurde das Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität gegründet. Abendroth (1906 bis 1985) prägte das wissenschaftliche Profil des Marburger Instituts – unter anderem auch durch seine Schüler („Abendroth-Schule“) – weit über seine Emeritierung im Jahre 1972 hinaus. Unter den überwiegend konservativen Professoren, von denen viele dem faschistischen System treu gedient hatten, war Abendroth ein Außenseiter, gelegentlich sogar ein „Outcast“, stigmatisiert gerade wegen seiner politischen Herkunft und seines Widerstands gegen das Dritte Reich.Der Jurist, der lieber eine Professur für Staatsrecht übernommen hätte, gehörte in der Weimarer Republik dem linken Flügel der Arbeiterbewegung an. 1933 erhielt er Berufsverbot; 1935 musste er in Bern mit einer völkerrechtlichen Arbeit promovieren. Im Widerstand gegen die Diktatur setzte er sich vor allem für die „Einheitsfront“ zwischen SPD und KPD ein; vor 1933 hatte er – als Anhänger der „KPD-Opposition“  (KPO) um Heinrich Brandler und August Thalheimer – den „ultralinken“ Kurs der Kommunistischen Internationale (KI) und der KPD kritisiert.Im Februar 1937 wurde er verhaftet. Die Folter der Gestapo wirkte noch bis zu seinem Tode. „Wegen Hochverrats“ verbrachte er vier Jahre im Zuchthaus Luckau. Ende 1943 wurde er zum „Strafbataillon 999“ eingezogen und in Griechenland eingesetzt. Dort lief er zur griechischen Widerstandsbewegung ELAS über und wurde am Ende des Krieges von den Engländern in einem Lager für Kriegsgefangene in Ägypten interniert.

 

Machtverhältnisse in der Klassengesellschaft

Erst 1946 kam er nach Deutschland zurück und ging mit seiner Familie zunächst in die Sowjetische Besatzungszone. Dort schloss Abendroth formell die juristische Ausbildung ab und übernahm erste Professuren für Staatsrecht in Leipzig und Jena. 1948 ging die Familie in den Westen zurück. Er war 1946 der SPD beigetreten und hatte als ehemaliger „KPOler“ Repressionen zu befürchten. Abendroth wurde 1949 Gründungsrektor der gewerkschaftsnahen „Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven.Abendroth begriff die Politik-wissenschaft als „politische Soziologie“, deren Gegenstand die um den Staat zentrierten Machtverhältnisse in der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft bilden. In „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“ (1967) bezeichnen ein Spannungsverhältnis, das seit den bürgerlichen Revolutionen und der Entstehung der sozialistischen Arbeiterbewegung durch heftige politische und soziale Kämpfe charakterisiert ist.Recht – so hatte es Abendroth vor 1933 von Hermann Heller, Hugo Sinzheimer, Otto Kirchheimer, Franz Neumann und von den „Austromarxisten“ Otto Bauer und Max Adler gelernt – ist ein zentrales Steuerungsinstrument dieser Machtverhältnisse. Im Recht werden soziale Verhältnisse reguliert – im Kampf um die demokratische Verfassung werden zeitweilig Kräftekonstellationen zwischen den Klassen festgeschrieben.Die Erfahrungen der Zwischenkriegsperiode – und vor allem im Jahre 1933 – hatten die These bestätigt, dass der „Block“ der politischen und sozialen Kräfte, die die bürgerlich-kapitalistische Ordnung um jeden Preis erhalten wollten, unter dem Druck ökonomischer Krisen und angesichts der zunehmenden Macht der anti-kapitalistischen Kräfte nach der Oktoberrevolution 1917 immer wieder dazu tendiert, mit der Zerstörung der Demokratie zugleich rechts- und sozialstaatliche Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen.Abendroths Interpretation des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland knüpfte – unter den veränderten historisch-politischen Bedingungen der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges – an diese Lehren der Geschichte an. Das „Sozialstaatsgebot“ des Grundgesetzes, das Abendroth Anfang der 50er Jahre in der Auseinandersetzung mit dem Carl-Schmitt-Schüler Forsthoff aus Artikel 20 Abs. 1 und Artikel 79 Abs. 3 – in Verbindung mit den Artikeln 14 und 15 – ableitete, verstand er als normative Bindung des Gesetzgebers, den „Sozialstaat“ als „Klassenkompromiss“ zwischen den Kräften des Liberalismus und denen der sozialistischen Arbeiterbewegung nicht nur zu bewahren, sondern auszubauen. Unter Sozialstaat verstand Abendroth nicht alleine die klassischen sozialen Sicherungssysteme, sondern die „Wirtschafts-demokratie“ durch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften sowie durch die Ausweitung des kollektiven Arbeits-rechtes. „Die formale Demokratie ist nur dann politisch gesichert, wenn sie durch aktive Beteiligung eines jeden am ständigen politischen Meinungsbildungsprozess, durch lebendige Selbstverwaltung der Gesellschaft und des Staates Inhalt gewinnt.“ („Die deutschen Gewerkschaften“/1954). In der Schrift „Das Grundgesetz“ (1966) führte er diesen zentralen Gedanken weiter aus: „Das Prinzip des demo-kratischen und sozialen Rechtsstaates geht ... davon aus, dass der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 und der Selbstverwaltungsgedanke sich aus der politischen Ordnung in die Kultur- und Wirtschaftsgesellschaft übertragen kann, und dass der Gesetzgeber, die Exekutive und die richterliche Gewalt mindestens die Möglichkeit, wenn nicht den Auftrag erhalten, diese Ausdehnung demokratischer Grundsätze aus dem Staatsrecht in die Beziehungen der Bewohner des Staatsgebietes (bzw. dem Anwendungsbereich des Grundgesetzes) untereinander durchzusetzen.“Abendroth vertrat immer die Auffassung, dass rechtsstaatliche Grundsätze gegen jede externe, politische Intervention und gegen alle Versuche der Instrumentalisierung geschützt werden müssen – diese Position vertrat er insbesondere gegenüber den „realsozialistischen“ Systemen, wo die Instrumentalisierung des Rechts durch die politische Macht nach seiner Überzeugung zu deren Scheitern beitrug. Den autobiografischen Gesprächen, 1976 als Buch erschienen, gab Abendroth den Titel „Ein Leben in der Arbeiterbewegung“. Er war sein Leben lang Sozialist, der in der Arbeiterbewegung allerdings immer wieder mit der jeweils herrschenden Linie in Konflikt geriet: vor 1933 mit der KPD, nach Godesberg (1959) mit der SPD. Diese belegte 1961 den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mit dem Bann des „Unvereinbarkeitsbeschlusses“, der schließlich auch Abendroth aus der Partei ausgrenzte.In dieser Zeit war er wohl der einzige unter den bundesdeutschen Hochschullehrern, der sich zum Marxismus – als wissenschaftlicher Methode – bekannte. Die „Theorie eines kritisch erneuerten Marxismus“ begriff er als „Theorie des sozialistischen und demokratischen Humanismus, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhundert durch Karl Marx und Friedrich Engels  in der Gesellschaft des liberalen Kapitalismus entwickelt wurde“. Sie biete nach wie vor die „Grundlagen..., um auch die Gesellschaft des Spätkapitalismus ... und ihre politischen Konflikte zu verstehen und zu ihrer Lösung anzuleiten“ .

 

Der Arbeiterbewegung als Jurist nützlich

Als Sozialist engagierte sich Abendroth in der Arbeiterbewegung, der er – wie er selbst sagte – als Jurist gegen die „Klassenjustiz“ der Weimarer Republik  nützlich sein konnte. Seit der Gründung der Bundesrepublik hatte er sich öffentlich gegen die Politik der Remilitarisierung gewandt, aber auch die Gewerkschaften in ih-ren Auseinandersetzungen um das Betriebsverfassungsgesetz (1952) unterstützt.Seit den 60er Jahren hatte er das KPD-Verbot öffentlich kri-tisiert und die Kampagnen der außerparlamentarischen Oppo-sition – vor allem in der Auseinandersetzung um die Not-standsgesetze, später in der Auseinandersetzung um den so genannten „Radikalenerlass“ – unterstützt. So wurde er – vor allem von der konservativen Presse – als „Mentor“ bzw. als eine Art „Übervater“ der 68er-Bewegung stilisiert.Diese Rollenzuschreibung gefiel ihm überhaupt nicht; denn er kritisierte stets mit äußerster Schärfe alle Formen eines linksradikalen Sektierertums und Aktionismus, vor allem unter den Intellektuellen. Auch in den Bewegungen der 60er und 70er Jahre kämpfte er für Positionen, die seinen historisch-politischen Erfahrungen und seinen wissenschaft-lichen Grundauffassungen entsprachen: Er forderte eine Politik der „Einheitsfront“ im Zusammenwirken der verschiedenen Strömungen der Linken und er setzte sich immer wieder für die Verteidigung von Rechts- und Verfassungspositionen – als Kern seines Demokratieverständnisses – ein. Dafür hatte er auch in den 50er Jahren, als Mitglied der Staats-gerichtshöfe von Bremen und Hessen gewirkt.Nach der Emeritierung 1972 war Abendroth noch zehn Jahre lang als Lehrer für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Akademie der Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbunds in Frankfurt tätig. Dort entstand unter den jungen Gewerkschaftern eine neue Generation seiner Schüler, die ihn – neben Willi Bleicher und Otto Brenner – als Vorbild verehrten.

 

Fundierung durch Realanalyse

Als Wissenschaftler war Abendroth sehr streng. Marxistisches Philoso-phieren – in der Tradition von Lukács bis Adorno – war ihm wohl vertraut. Dennoch bestand er darauf, dass die politische Theorie des Marxismus (die immer neu – theoretisch und praktisch – erarbeitet werden muss) der Fundierung durch „Realanalyse“ bedarf. Ohne fundierte historische Kenntnisse, ohne die Präzision der juristischen Analyse und schließlich ohne gründliche Analyse der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse bleibt die Theorie kapitalistischer Vergesell-schaftung abstrakt, sie regrediert zur bloßen Ideologiekritik, die deshalb auch keine Verbindung mehr zur Praxis der sozialen und politischen Auseinandersetzungen in der konkreten historischen Situation herzustellen vermag.Diese Maßstäbe vermittelte er seinen Schülern, darunter der außerordentlich großen Zahl seiner Doktoranden.Mit seinen Schriften zur Geschichte der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung leistete Abendroth Pionierarbeit auf einem interdisziplinären Forschungsfeld, das bis dahin in der Bundesre-publik – im ideologischen Klima des Kalten Krieges – von der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, aber auch der Kulturgeschichte weitgehend ignoriert worden war. Seine „Sozial-geschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ wurde, ebenso wie die gemeinsam mit Kurt Lenk herausgegebene „Einführung in die politische Wissenschaft“ (1968),in zahlreiche Sprachen übersetzt und wird noch  heute als Standardwerk benutzt. Dass Abendroth eine Persönlichkeit mit außerordentlicher Ausstrahlungskraft war, wurde von seinen Freunden und Feinden anerkannt. Abendroth war ein großartiger Redner, dessen Vorlesungen meist überfüllt waren – er war rührend um seine Assistenten und Schüler bemüht. Seine Wirkung ist nicht allein über die große Zahl der Professoren, Lehrer, Journalisten, aber auch der Gewerkschafts- funktionäre und Berufspolitiker zu erschließen, die sich – obwohl unterschiedlichen politischen Positionen zuzurechnen – als Schüler von Wolfgang Abendroth bekennen.